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Dieses Jahr erreichte Europa die bisher größte Flüchtlingswelle seiner neueren Geschichte. Sie führte zu enormer Hilfsbereitschaft aber leider auch zur Abschottung. Erstmals wurden wieder Zäune entlang einiger Grenzen gezogen. Dabei haben die Europäer besonders im 20. Jahrhundert schmerzvolle Erfahrungen mit Flucht und Migration gemacht. Schätzungsweise waren am Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu 60 Mio. Menschen von Flucht, Verschleppung oder Umsiedlungen betroffen. Begonnen hat diese verheerende Vertreibungsgeschichte mit den Aggressionen und Kriegen der deutschen Nationalsozialisten, wozu auch die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung als eine Phase des Holocaust gehört.

Die meisten Zwangsumsiedlungen, mit Ausnahme derer, die bereits vor dem Ende des Krieges begannen, wurden 1945 mit dem Potsdamer Abkommen besiegelt. Die darin garantierte humane Durchführung des „Bevölkerungsaustausches“ konnte nur teilweise die Not der Zwangsaussiedler lindern. Einige Vertreibungswellen nach 1945, ohne den Anspruch auf Vollständigkeit, könnte man heranführen: Vertreibung von Deutschen aus dem östlichen Europa; anderseits die Zwangsumsiedlung von Polen aus den Ost- hin in die ehemals deutschen Ostgebiete; zudem Vertreibungen von Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei, die mit Vertreibungen von Ungarn und ethnischen Deutschen aus dem Süden des Landes einhergingen. Die Deportationen dauerten manchmal Monate, das Ankommen in der Fremde für einige ein ganzes Leben lang. Viele der Opfer haben sich nie mit dem Verlust von Angehörigen, Heimat und Identität abgefunden. In Zeiten des Kalten Krieges wurde zudem vieles verschwiegen oder beschönigt, alte Nationalmythen und Ressentiments wurden von sozialistischen Regimen geschürt, während die Vertriebenenverbände im Westen die neuen Grenzen in Ost- und Mitteleuropa nicht akzeptierten. Die Verfeindung zwischen den Nachbarn änderte sich nur langsam. Dabei sei wiederum nicht vergessen, dass viele Gesellschaften enorme Anstrengungen unternahmen, um die Ankömmlinge zu integrieren, obwohl dies nicht selten mit Entbehrungen seitens der Aufnahmegesellschaften einherging. Das Nachkriegseuropa war für einen gerechten Frieden nicht vorbereitet, denn ein menschliches Konzept dafür fehlte oder wurde geopolitisch vielleicht nicht angestrebt. Sicher ist: Das erlittene Leid konnte nie wieder gut gemacht werden. In der Regel blieben die Menschen mit ihren Traumata allein oder mussten diese aus Angst vor Stigmatisierung oder Scham verschweigen. Die Erlebnisse der Betroffenen, aber auch die Orte selbst, sind bis heute Zeugen dieser Geschichte. Sie sind die mentalen und physischen Spuren, die mit der Zeit immer mehr an Detailschärfe verlieren. Die Aufarbeitung und das Zusammenwachsen Europas in seinen „neuen“ Grenzen dauern bis heute an, obwohl die Nachbarn wie Tschechien, Polen und Deutschland bereits intensiv aufeinander zugegangen sind. Viele Institutionen, Historiker, Bürger und Künstler haben sich gewagt, diesem schwierigen Erbe zu begegnen.

Die Specials-Reihe möchte zeigen, wie mitteleuropäische Filmemacher diese Geschichte mit Blick auf eine gemeinsame Aufarbeitung der unterschiedlichen Vertreibungsschicksale behandeln. Im Mittelpunkt stehen dabei Dokumentar-, aber auch Spiel- und Animationsfilme. Die Beiträge sind sehr vielfältig und dennoch fanden bei der Auswahl einige historische Aspekte und die dazugehörigen Filme leider keinen Platz darin. Zu erwähnen wäre hier der polnische Klassiker DAS RECHT UND DIE FAUST/Prawo i pięść von Jerzy Hoffmann, der im Stil eines Western die Plünderungen der deutschen Gebiete in Westpolen thematisiert. Auf tschechischer Seite wurde der Spielfilm HABERMAN, in dem Juraj Herz das Schicksal einer sudetendeutschen Familie während der Vertreibungen nachzeichnet, nicht berücksichtigt. Das Thema findet dennoch seinen Platz zum Beispiel im Film KYTLICE, ZIMMER FREI/KYTLICE, WOLNE POKOJE von Rozálie Kohoutová, die das Leben einer Kleinstadt im heutigen Sudetenland betrachtet. Bei ihren Nachforschungen der sozialen Folgen, die die Vertreibung der Deutschen hier bis heute hat, begegnen ihr Aufgeschlossenheit, Interesse, aber eben auch Gleichgültigkeit und Ignoranz. Ganz andere Töne schlägt der dokumentarische Selbstversuch MEIN KROJ/MEIN KROJ von Martin Dušek an. Was auf den ersten Blick an die verrückte Idee eines tschechischen Borats erinnert, ist eine durchaus ernsthafte Auseinandersetzung mit den langfristigen Folgen der tschechoslowakischen Umsiedlungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg.

Generell geht im Dokumentarischen eine junge Generation von Filmschaffenden auf eine sehr persönliche Suche nach mentalen oder physischen Spuren, nach dem Erlebten oder Verschwiegenen im Umkreis ihrer Familien. Oft spielen Nationalitäten für sie lediglich eine Nebenrolle. In ihrem Dokumentarfilm FELVIDÉK. ZWISCHEN DEN STÜHLEN/FELVIDÉK. POMIĘDZY KRZESŁAMI entdeckt Vladislava Plančíková, dass ihre Vorfahren zum Spielball slowakisch-ungarischer Interessenkonflikte und einer rigiden Umsiedlungspolitik wurden. Es ist ein bis heute schwieriges, hierzulande weitgehend unbekanntes Thema. Der polnische Filmemacher von MORGENROT, Michał Korchowiec, begibt sich mit seiner Mutter in die Masuren und konfrontiert sie mit den traumatischen Erfahrungen ihrer Vorfahren. Und in MÓJ DOM/MEIN HAUS erfährt man in einem polnisch-deutschen Doppelporträt wie Polen bereits 1939 von den Sowjets nach Sibirien verfrachtet wurden, um nach dem Krieg in Gebiete deportiert zu werden, von wo kurz zuvor, die Deutschen fliehen mussten. Wichtig sind auch die Schicksale der jüdischen Bevölkerung, die zu ersten Opfern der Verfolgung wurden. Auf einer Recherche nach ihren Wurzeln entdeckt Ann Elizabeth Michel in REVERSING OBLIVION ihre jüdisch-deutsche Geschichte in Schlesien. Die Amerikanerin sucht das ehemalige Familiengut auf und hinterlässt dort eine Vision für eine generationen-freundliche Gedenkstätte.

Das Special setzt durchaus positive Akzente, die trotz der schweren Themen am Ende der Filme dominieren. Sie lassen hoffen, dass ein Zusammenleben mit grenzüberschreitenden Identitäten in Zukunft besser gelingt und konstruktive Ansätze nicht von nationalen Populisten zerstört werden.

An dieser Stelle möchten wir die Gelegenheit ergreifen und uns bei der Initiative „Antikomplex“ aus Ústí nad Labem für die Zusammenarbeit und inhaltliche Beratung herzlich bedanken. jg